Der letzte Moment

Hinter mir liegt ein Wochenende mit meiner Familie. Zuhause in meiner Heimat. Diese Tage sind für mich oft sehr gefühlsbeladen. Ich habe mein Zuhause vor mehr als 13 Jahren verlassen. Ein bisschen aus Abenteuerlust, ein bisschen weil es damals auch keine andere vertretbare Möglichkeit zum Bleiben gab. In all’ den Jahren habe ich mich immer nach meiner Heimat gesehnt – vom ersten Tag an, auch wenn noch weitere Stationen in Süd und West dazukamen.

Nach Leipzig zu fahren ist wegen der weiten Strecke oft ganz schön anstrengend, aber vor allem ist es nach Hause kommen und eine Möglichkeit, meine Akkus aufzuladen. Egal, wie gestresst ich bin. Goethe würde es folgendermaßen ausdrücken: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich sein“. Und so war es auch dieses Wochenende. Es ist nicht immer alles perfekt, aber es ist meistens heilsam. Es fühlt sich hinterher immer wohlig an. Und dann halten die Akkus auch länger auf dem darauffolgenden Ritt.

Dieses Wochenende war für mich etwas emotionaler als sonst. Vielleicht sind es die Wechselhormone oder meine angeborene Sensibilität. Ich kann es nicht sagen. Etwas schwelte an diesem Wochenende jedenfalls mit. Etwas, das mir sehr nahe geht. Heute vor 17 Jahren war ich noch einmal bei meiner Oma, um sie ein letztes Mal zu besuchen. Und es war damals einer der schönsten Augenblicke zwischen ihr und mir. Voller Liebe, Zuneigung und Innigkeit. Wir schienen alle Zeit der Welt zu haben, konnten uns alles sagen. Nichts war peinlich oder unangebracht. In diesem Teil meiner Familie sagten wir uns nicht, dass wir uns lieben, wir fühlten und zeigten es uns. An diesem Tag sagten und taten wir beide Dinge, die normalerweise nicht einmal wir beide sonst miteinander austauschten.

Ich glaube, dass ich ein sehr enges Verhältnis zu meinen Großeltern hatte. Sie waren beide ganz wunderbare Menschen. Mindestens so eigen wie ich, aber großzügig und mit sehr großen Herzen. Die Erinnerungen meiner Kindheit sind unveränderlich mit den beiden verwoben und werden für immer Liebe bedeuten.

Manchmal konnte sie verletzend sein. Es gab ein paar Momente in meinem Leben, in denen die Frau, die ich heute bin, gerne die Oma von damals zum Gespräch bitten möchte. Nach ihren Gründen fragen möchte. Ich habe nie herausgefunden, warum sie manche Dinge sagte. Vielleicht fehlte ihr ab und zu das richtige Taktgefühl. Vielleicht war sie zu selbstbewusst in manchem Moment? Zu überzeugt, dass ihre Meinung die richtige sei? Gut möglich, dass meine Enkelkinder mir später Ähnliches nachsagen. Wer ist schon frei von Schwachstellen…

Meine Oma war eine starke Frau, die eine beeindruckende Biografie vorweisen konnte: sie arbeitete als Übersetzerin, sie war Ärztin, Mutter zweier Kinder, hat vielen Menschen geholfen und war für mich eine wundervolle, wenn auch strenge (wegweisende) Großmutter.

Was in meinem Herzen bleibt, sind die vielen Momente, die dazu beigetragen haben, mich zu dem Mensch werden zu lassen, der ich heute bin. Mit Stärken und Schwächen. Der Mensch, der auch am 17. Jahrestag all‘ die schönen Momente in Erinnerung ruft, dankbar, dass du mir beratend zur Seite standest, Fragen gestellt hast, die ich mir selbst nicht stellen wollte, mich geschubst hast, wenn es nötig war, mir Selbstvertrauen geschenkt hast. Ich bin dankbar für meine wunderbare Familie, die ihr uns geschenkt habt. Ich bin dankbar für die vielen Augenblicke, in denen wir zusammen lachen konnten und unseren letzten Moment zusammen: Arm in Arm, uns küssend und uns sagen könnend, dass wir uns sehr lieben.

Und in meinen Erinnerungen sitzen wir beide unter Pappeln auf eurer Hollywoodschaukel. Nur du und ich.

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  1. Jura sagt:

    Ganz stark! Liebe Grüße

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